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Lutz Fiedler
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Der Prager Historiker Hans Kohn (1891–1971) zählt zu den Begründern der modernen Nationalismusforschung. Berühmtheit erlangte sein Nationalismus-Konzept durch die später nach ihm benannte Kohn-Dichotomie: die Unterscheidung zwischen einem westlichen, staatsbürgerlich-institutionellen und einem östlichen, an ethnischer Zugehörigkeit orientierten Nationalismus. Lebens- und Werkgeschichte Kohns erstrecken sich vom Habsburgerreich über Palästina und den Orient bis in die Vereinigten Staaten.

Der Prager Historiker Hans Kohn (1891–1971) zählt zu den Begründern der modernen Nationalismusforschung. Berühmtheit erlangte sein Nationalismus-Konzept durch die später nach ihm benannte Kohn-Dichotomie: die Unterscheidung zwischen einem westlichen, staatsbürgerlich-institutionellen und einem östlichen, an ethnischer Zugehörigkeit orientierten Nationalismus. Lebens- und Werkgeschichte Kohns erstrecken sich vom Habsburgerreich über Palästina und den Orient bis in die Vereinigten Staaten.

1. Hans Kohn

Hans Kohn, 1891 in Prag geboren, entstammte einer assimilierten böhmisch-jüdischen Familie. Mehrsprachig aufgewachsen, war seine Kultur gleichwohl die deutsche. Er besuchte eine deutschsprachige Schule, das Altstädter Gymnasium, las begeistert deutsche Philosophie und begann nach dem Schulabschluss ein Studium der Rechtswissenschaften an der deutschsprachigen Abteilung der 1882 in einen tschechischen und in einen deutschen Teil getrennten Karls-Universität. Bereits 1908 schloss er sich dem kulturzionistischen Verein Jüdischer Hochschüler Bar Kochba an, als dessen Obmann er in den Jahren 1912/1913 fungierte. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs wurde Kohn zum Militärdienst in der österreichisch-ungarischen Armee eingezogen und geriet bereits im März 1915 in russische Kriegsgefangenschaft. Eine fünfjährige Odyssee führte ihn nach einem gescheiterten Fluchtversuch im Februar 1916 von Samarkand über Gultscha bis in ein Lager für Kriegsgefangene im sibirischen Irkutsk. Hier widmete sich Kohn der intensiven Lektüre wissenschaftlicher Arbeiten, erlernte die russische Sprache und übersetzte Joseph Klausners Geschichte der neuhebräischen Literatur. Zudem verfasste er Artikel für Martin Bubers Zeitschrift Der Jude, publizierte in der zionistischen Wochenzeitung Yevrejskaya zhizn' (Jüdisches Leben) und fungierte in Irkutsk sowie später in Krasnojarsk als eine Art Schulungsleiter in zionistischen Gefangenenorganisationen. Über Japan gelangte er nach Kriegsende schließlich wieder zurück nach Europa. 1920/1921 war er in Paris als Sekretär des kurz zuvor gegründeten Comité des délégations juives tätig, bis er 1921 eine Stellung beim zionistischen Palästina-Fonds Keren Hayesod in London annahm. Gleichzeitig entstand die erste Sammlung eigener Texte unter dem Titel Nationalismus. Über die Bedeutung des Nationalismus im Judentum und in der Gegenwart (1922).

Die Arbeit für den Keren Hayesod setzte Kohn auch nach seiner zionistisch motivierten Einwanderung nach Palästina 1925 fort. Dort gehörte er zu den Gründern des Brit Shalom (Friedensbund), der sich der Verständigung mit den ortsansässigen Arabern verpflichtete und für eine binationale Lösung der Palästinafrage aussprach. Nach den Angriffen auf Siedlungen des alten Jischuw und den folgenden gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern im August 1929 verließ Kohn die Gruppe bereits 1930, bevor er im Herbst 1933 Palästina gänzlich den Rücken kehrte. Parallel dazu kam seine jahrelange Beschäftigung mit der Geschichte der nationalen Bewegungen im Orient mit seiner Monographie Die Europäisierung des Orients (1934) zum Abschluss.


                        
                           Hans Kohn (1891–1971)
                        
                     Hans Kohn (1891–1971) View full image in a new tab

In Amerika, wo sich Kohn 1934 niederließ, nahm seine akademische Karriere ihren Anfang. Dort gehörte Kohn zu einem Netzwerk jüdischer Emigranten aus Zentraleuropa, das sich gegen die britische Appeasement-Politik und den amerikanischen Isolationismus aussprach. Zwischen 1934 und 1949 bekleidete er eine Professur für moderne Geschichte am Smith College in Northampton, danach lehrte er bis 1962 am New Yorker City College. Neben seinem Hauptwerk Die Idee des Nationalismus (1944) entstanden in dieser Zeit zahlreiche Werke zur Geschichte der nationalen Bewegungen von ihren Anfängen bis in das Zeitalter der Dekolonisierung. Diese Arbeiten trugen ihm später den Ruf ein, zu den »Vätern der Nationalismusforschung« (Eric Hobsbawm) zu zählen. Er habe ein Werk vorgelegt, das in der westlichen Welt lange Zeit als »meistdiskutierteste Interpretation des Nationalismus« (Heinrich August Winkler) galt. Kohns spezifischer Universalismus kam auch im deutschsprachigen Titel seiner zuerst 1964 erschienenen Autobiographie Bürger vieler Welten. Ein Leben im Zeitalter der Weltrevolutionen zum Ausdruck.

2. Prag und die Geburt der Nationalismusforschung

»Es war die besondere Prager Luft, die mich zum Studenten der Geschichte und des Nationalismus gemacht hat«, erinnerte sich Kohn in seinem autobiographischen Rückblick, in dem ihm der »erbitterte Nationalitätenstreit« zwischen Deutschen und Tschechen gleichsam als »europäisches Versuchsfeld für Kämpfe, Spannungen und Verwicklungen des modernen Nationalismus« erschien [14. 38, 23]. Seit dem europäischen Völkerfrühling 1848 und der Verwandlung eines politischen in einen ethnischen Nationalismus begannen beide Bevölkerungsgruppen ihre nationale Herkunft zu politisieren und zu territorialisieren. Mit dem Ruf nach einer ethnisch legitimierten Volkssouveränität standen sie sich innerhalb der Dreivölkerstadt Prag nun ebenso als Feinde gegenüber, wie sie den multinationalen Charakter der Habsburgermonarchie untergruben. Obwohl er der Gruppe der deutschsprachigen Einwohner angehörte, sah Kohn sich auf Äquidistanz zu beiden Nationalbewegungen.

Zentral für Kohns frühe Auseinandersetzung mit dem Aufstieg der nationalen Bewegungen in der niedergehenden Habsburgermonarchie war seine Hinwendung zum kulturzionistischen Verein Bar Kochba, wo er lebenslange Freundschaften mit Robert Weltsch und Hugo Bergmann schloss. Die Mitglieder des Vereins – darunter Max Brod und Felix Weltsch – standen unter dem Einfluss der Schriften von Achad Ha’am (Kulturzionismus) und Martin Buber (Dialog). Buber hatte auf Einladung des Vereins Bar Kochba hin in Prag seine Drei Reden über das Judentum (1911) vorgetragen, die für Kohn (seinen späteren Biographen) zu einem »Wendepunkt in all seinen Anschauungen« über Judentum und jüdische Geschichte wurden [1. 388]. So sehr die Mitglieder des Vereins ihr nationales Selbstverständnis auch als zionistisches bestimmten, das sich zudem am Nationalismus der deutschen Romantik orientierte, so wenig teilten sie mit ihrer Umgebungskultur das nationalistische Streben nach einer Verbindung von Territorium, Nationalität und Geschichte [22]. In engem Zusammenhang mit der demographischen Realität in der multinationalen Habsburgermonarchie stand das nationale Bewusstsein der Prager jüdischen Studenten vielmehr für ein jüdisch-nationales Kollektivbewusstsein jenseits des Territorialen. Orientiert an Martin Buber, hatten sie etwa dessen Vorstellung von einem jüdischen Nationalismus als einem »Nationalismus der Innerlichkeit« übernommen [21. 50 f.], der nicht im geschichtsträchtigen Boden, sondern vielmehr »in einer Idee« verwurzelt sei [24. XXII]. Kohn hatte diesen Zusammenhang eines nichtterritorialen Nationalbewusstseins schon 1913 mit der Rede vom Zionismus als einer »Heimat im Geiste« beschrieben [3. 370]. 1916, also in der Kriegsgefangenschaft, notierte er Überlegungen, die eine föderative Umgestaltung Österreichs forderten, um den Zerfall der Habsburgermonarchie durch den aufstrebenden Nationalismus zu verhindern.

Sein Plädoyer für ein multinationales Österreich stellt den Versuch dar, den einheitlichen, übernationalen Bestand des Reichs an den nichtterritorialen Charakter des Judentums zu binden. Ähnlich wie Hugo Bergmann, der viele Jahre später die Juden Böhmens als die Brücke zwischen den Völkern Prags bezeichnete, hatte auch Kohn »die Juden […] im nationalbunten Österreich [als] das einzig unbedingt Österreich ergebene, nie nach irgendwo außen schielende, nie nach ›Unabhängigkeit‹ strebende Volk« verstanden und in ihnen wegen der diasporischen Form des jüdischen Nationalbewusstseins zugleich den »einigenden Kitt« der gesamten Monarchie gesehen [15. 485]. Die integrierende Funktion des Judentums bestand für ihn somit vor allem darin, den modernen Nationalismus in seiner nach vollständiger territorialer Unabhängigkeit (und potentiell nach ethnischer Homogenität) strebenden Intention zu begrenzen.

Kohn kehrte nach seiner Befreiung aus der Kriegsgefangenschaft nicht mehr in seine Geburtsstadt zurück. Das alte Prag hatte aufgehört zu existieren; schon im Namen hatte sich die tschechoslowakische Republik ethnisch begründet. Kohn kritisierte später, dass sie sich »ausschließlich oder hauptsächlich mit einer ethnischen und sprachlichen Bevölkerungsgruppe auf Kosten der anderen in den Grenzen des neuen Staatsgebildes lebenden Gruppen« identifizierte [14. 157]. Demgegenüber betonte er nach wie vor seine Sympathie für das alte Österreich und notierte nach der Aufgabe seiner tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft im Mai 1929 in sein Tagebuch: »Ich war schon immer Österreicher, für es hatte ich Liebe« [15. 486]. Die Entstehung ethnisch begründeter Nationalstaaten aus der Verfallsmasse der multinationalen Imperien war ihm deshalb gerade im Hinblick auf die Verbindung von Souveränität und Territorialität zum Gegenstand der Kritik geworden. Er forderte eine Trennung von Staat und Nation, um »den Nationalismus zu entpolitisieren« und das Prinzip des ethnischen Nationalstaats zu überwinden [2. 92]. In dem Essay Die politische Idee des Judentums (1924) fand sich dieser Gedanke mit einer Idee des Messianismus und einer besonderen »Sendung des Judentums« verbunden, Vorreiter der Entwicklung zu einer »Einheit und Gleichheit des Menschengeschlechts zu sein« [5. 55]. Konkret zielte dies auf eine übernationale Vereinigung der Menschheit gleich dem Völkerbund ( Genf). Kohns Utopie war der alle Nationalitäten umschließende kantianische »Erdstaat« [11. 13].

Von dieser Kritik an der nationalstaatlichen Ordnung war auch Kohns Engagement in der pazifistischen Bewegung bestimmt. War er noch voller Begeisterung in den Krieg gezogen, so kehrte er unter dem Eindruck einer »Periode äußerster nationaler Selbstentäußerung und Würdelosigkeit« schockiert nach Europa zurück [4. 57]. Bereits 1921 schloss er sich in London der War Resisters International (WRI) an, einer im gleichen Jahr gegründeten Organisation von Kriegsgegnern und Pazifisten [23]. Nach seiner Übersiedlung nach Jerusalem wirkte er als Vertreter Palästinas im internationalen Ausschuss der WRI. Mit seiner Rede auf der internationalen Tagung der Kriegsgegner in Österreich im Juli 1928 trat er für eine Entmilitarisierung nationalstaatlicher Konflikte ein und analysierte den Palästinakonflikt als »innerpazifistisches Problem in einem Staate mehrerer Nationalitäten« [2. 89].

3. Brit Shalom und die binationale Idee

Schon lange bevor sich Kohn in Palästina niedergelassen hatte, war ihm der Konflikt zwischen der zionistischen Ansiedlung und der arabischen Bevölkerung zum Thema geworden. Hugo Bergmann hatte in seinen Bemerkungen zur arabischen Frage (1911) an Achad Ha’ams Text Die Wahrheit über Palästina (1891) angeknüpft und gegen die Auffassung von Palästina als unbesiedeltem Land die Notwendigkeit einer Vermittlung zwischen dem zionistischen Projekt und den Arabern Palästinas betont. In diesem Sinne hatte auch Kohn in seinem Text Zur Araberfrage für die Zeitschrift Der Jude (1919) festgehalten, dass Palästina, »so unwillkommen uns das sein mag, tatsächlich ein arabisches Land« ist, und in Anspielung auf die Balfour-Deklaration erklärt, dass das Land zugleich die nationale Heimstätte für die palästinensischen Araber sei [4. 61].

Kohn fürchtete, ein Festhalten am Projekt eines jüdischen Nationalstaats würde eine Übertragung der europäischen Minderheitenfrage nach Palästina bedeuten: »Wie in den neuen europäischen Nationalstaaten, würde hier einer herrschenden jüdischen Staatsnation eine arabische Minorität gegenüberstehen« [7. 237]. Dagegen propagierte er einen »sittlichen Nationalismus«, der der Embleme territorialer Souveränität entbehren solle. Palästina könne »kein Nationalstaat sein, « sondern müsse »ein Nationalitätenstaat« für »zwei unterritoriale, unzusammenhängende souveräne Nationalgemeinschaften auf einem gemeinsamen staatlichen Territorium« werden [4. 64 f.].

Auf dieser Grundlage gehörte Kohn auch zu den Mitbegründern des 1925 ins Leben gerufenen Brit Shalom , der die Etablierung eines binationalen Gemeinwesens in Palästina zum Programm erhob. Im Unterschied zu der »Jischuw-Gruppe« um Arthur Ruppin, deren Mitglieder schon längere Zeit in Palästina lebten und den Brit Shalom als Studiengruppe zur jüdisch-arabischen Frage innerhalb des zionistischen Kolonisationsprojekts verstanden, gehörte Kohn von Anbeginn dem linken Flügel der Gruppe an, der politisches Handeln forderte [20. 60 f.]. Damit war vor allem die offene Distanzierung vom Anspruch der Generierung einer jüdischen Mehrheit in Palästina und eine Absage an die Balfour-Deklaration gemeint. In diesem Kontext entstand auch Kohns eigener Verfassungsentwurf Zur politischen Gestaltung Palästinas (1926), dessen Kern die »Sicherstellung vor der Gefahr der Majorisierung einer der beiden Nationalitäten« bildete. Angesichts einer kaum zu erwartenden politischen Selbstbeschränkung der beiden Konfliktparteien rekurrierte Kohn aber nicht mehr auf ethische Kategorien, sondern argumentierte in internationaler und imperialer Perspektive. Er begrüßte vielmehr die »Überwachung durch den Völkerbund und durch die britische Mandatarmacht« [6. 283]. Kohns Verfassungsentwurf für eine Regelung des Zusammenlebens von Juden und Arabern in Palästina ging somit über das Konzept eines binationalen Staats hinaus. Der Konflikt in Palästina sollte in einem größeren politischen und zugleich übernationalen Rahmen neutralisiert werden. »Solange nicht ein wirklicher Völkerbund alle Staatsgrenzen aufhebt«, bevorzugte er den Status Palästinas als »Teil des britischen Weltreiches in seiner vielfältigen und zukunftsreichen Formentfaltung« [6. 272].

Mit seiner Distanzierung vom jüdischen Nationalstaatsprojekt war Kohn ebenso wie der Brit Shalom immer wieder der Kritik ausgesetzt. Zu offener Anfeindung kam es vor allem infolge der gewaltsamen Ausschreitungen im August 1929, als der Brit Shalom erneut zu Verhandlungen zwischen Juden und Arabern aufgerufen hatte. In einem Beitrag vom 8. September 1929 für die Frankfurter Zeitung bezeichnete Kohn die Eskalation, die im Jischuw zumeist als arabisches Pogrom bezeichnet wurde, als nationalen Aufstand der Araber und forderte britische Vermittlungsbemühungen statt einer von der zionistischen Exekutive geforderten »Politik der starken Hand«. Dem folgte eine publizistische Diskreditierung Kohns, begleitet von Unterschriftensammlungen, um gegen seine Weiterbeschäftigung beim Keren Hayesod zu protestierten. Im Dezember 1929 gab Kohn schließlich seine Mitarbeit in dieser Institution auf. Zugleich radikalisierte sich seine Position im Palästinakonflikt, so dass er nun allein in einer »gesicherten Minderheitenstellung« die Grundlage jüdischer Existenz vor Ort sah. Die Distanzierung vom Binationalismus hatte ihn auch in Gegensatz zum Brit Shalom gebracht, aus dem Kohn am 22. September 1930 enttäuscht ausschied. Im Herbst 1933 verließ er Palästina für immer [16].

4. Europäisierung und imperiale Neutralisierung

Kohns Positionierung im Palästinakonflikt reflektierte nicht nur sein europäischen Erfahrungen, sie drückte auch sein wissenschaftliches Interesse an der politischen Entwicklung im Orient aus. Ihren Anfang hatte diese Beschäftigung während seiner Kriegsgefangenschaft in Samarkand genommen. Später erinnerte er sich an diese Zeit als seine erste Erfahrung mit den »Realitäten des Kolonialismus« und dem »Zusammenprall zweier grundverschiedener Kulturen, und zwar nicht im Verhältnis gleichberechtigter Rivalen, sondern von Herrscher und Untertanen« [14. 127 f.]. Ihren frühen Ausdruck fanden derlei Reflexionen in seinem Band zur Geschichte der russischen Revolution, Sinn und Schicksal der Revolution (1923). Seit 1928 veröffentlichte er fünf weitere Monographien, von seiner Geschichte der nationalen Bewegung im Orient (1928) bis zu seinem Werk Die Europäisierung des Orients (1934). Der Region, die sich Kohn zufolge auf »eine[r] Geschichtsstufe, die der mittelalterlich-europäischen verwandt ist«, befand, attestierte er hier zugleich eine von Europa ausgehende Integration in die Geschichtsepoche der westlichen Moderne. »Über Orient und Okzident hinweg«, so die Hoffnung Kohns, sollte »die einheitliche Menschheit auf gemeinsamen Schlachtfeldern der Politik, der Wirtschaft, des Geistes« heranwachsen [9. 11, 91].

Kohns Begriff der Europäisierung hatte einen Doppelcharakter. Einerseits war es Europa selbst, das in Gestalt des britischen Empire die Region unter seiner Herrschaft logistisch, ökonomisch, politisch und kulturell vereinte und seiner Sogwirkung wegen als »Erwecker des Orients« galt. Andererseits erschienen ihm die Nationalbewegungen im Orient wegen ihres modernen und säkularen Charakters selbst als Ausdruck jener kulturellen und politischen Europäisierung der Menschheit [9. 85–92]. Dafür stand nicht nur die Entwicklung der Türkei, die sich mit einer Latinisierung des Alphabets und der Übernahme europäischer Rechtsformen aus dem Osmanischen Reich herausgeschält hatte. Auch die Unabhängigkeitsbestrebungen der Nationalbewegungen unter der Herrschaft der europäischen Kolonialreiche sah er als Ausdruck einer solchen Europäisierung. Zugleich gab er der Hoffnung Ausdruck, die nationalen Bewegungen im Orient würden über ihre europäischen Vorläufer hinausweisen. Aber weil auch die Geburt der Türkei unauflöslich mit dem Genozid an den Armeniern (Musa Dagh) sowie einer ethnischen Homogenisierung im Zuge des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustauschs verbunden war, galt sie ihm zugleich als Beispiel für »eine an Untoleranz nicht mehr zu überbietende Lösung des Problems der Minoritäten im modernen Nationalstaat« [7. 207]. Allem Antikolonialismus zum Trotz war es deshalb gerade das britische Empire, in dessen Gestalt er im Orient die Grundlagen einer übernationalen Organisations- und Integrationsform jenseits des Nationalstaats erkannte. Mittels eines »verständnisvollen Entgegenkommens an die Freiheitsbestrebungen des erwachenden Ostens« durch die britische Krone hoffte er deshalb ebenso den aufstrebenden Nationalismus »seiner akuten Schärfe zu berauben« wie die neuen Nationalbewegungen in ein als Commonwealth verwandeltes britisches Empire zu integrieren [9. 81].

Der Weg einer Aufhebung des souveränen Staats war ihm zufolge nur in der Sowjetunion bereits beschritten worden. Davon zeugt sein Bericht als Journalist der Frankfurter Zeitung, den er nach seiner Reise in das kommunistische Imperium im Jahr 1931 verfasst hatte. Dort schienen ihm die Gegensätze der verschiedenen Nationalitäten durch die kommunistische Idee aufgehoben. Den in seiner »Erdverwurzeltheit« verfangenen Nationalismus sah er hier durch die Integration in eine »über den ganzen Erdkreis gebreitete Klasse« neutralisiert und in den Dienst einer übernationalen Idee gestellt [10. 39]. Der britische »Kommerzimperialismus« und der sowjetische »Sozialimperialismus« galten ihm als wegweisend für die Überwindung des modernen Nationalismus und als Versuch, »radikal mit der Vergangenheit zu brechen« und »nach Zusammenballungen der Nationen in kontinentumfassenden Schicksalsgemeinschaften darüber hinaus die umfassende und alle Eigenheiten einschließende und wahrende Gesellschaft, den Erdstaat, das Ziel aller geschichtlichen Entwicklung zu schaffen« [11. 12 f.]. Mit Kenntnis der kommunistischen Verbrechen unter Stalin wandte sich Kohn seit Ende der 1930er Jahre wieder von der Sowjetunion ab. Neue Hoffnungen auf eine Überwindung des Nationalismus und eine prägende Rolle bei der Gestaltung einer neuen Weltordnung verbanden sich jetzt mit seinem neuen Wohnsitz: den Vereinigten Staaten von Amerika.

5. Akademisches Wirken und politisches Engagement

Die Übersiedlung nach Amerika und die Professur am Smith College bedeuteten nicht allein den Beginn der Akademisierung von Hans Kohns Nationalismusforschung. Seine ersten Jahre in der Neuen Welt standen auch ganz im Zeichen des Untergangs der Alten Welt. Im Aufstieg des Nationalsozialismus erkannte Kohn eine grundständige Revolte gegen die westliche Tradition von Liberalismus und Aufklärung, aus der er schloss, dass es jetzt »Europa selbst war, das einer Europäisierung bedurfte« [17. 42]. Aufgrund der Remilitarisierung Deutschlands, des Bruchs internationaler Abkommen und der deutschen territorialen Expansion gab er seinen Pazifismus auf. Zudem war er auch aus Sorge um die eigene Familie, die sich immer noch in Prag befand, zu einem entschiedenen Gegner der britischen Appeasement-Politik wie des amerikanischen Isolationismus geworden. Von dem Bemühen, die Vereinigten Staaten zur Übernahme internationaler Verantwortung angesichts des Zusammenbruchs Europas zu drängen, waren alle seine politischen Schriften der 1930er und 1940er Jahre gekennzeichnet (Force or Reason, 1937; Revolutions and Dictatorships, 1939; World Order in Historical Perspective, 1942). Diese politische Haltung kam auch in Kohns regem Engagement innerhalb antiisolationistischer Organisationen wie dem Fight for Freedom Committee zum Ausdruck. Am ertragreichsten war seine Mitarbeit im Committee of the City of Man, einer Gruppe vorrangig europäisch-jüdischer Immigranten, der neben Kohn so herausragende Intellektuelle wie Guiseppe Antonio Borgese, Thomas Mann, Oszkár Jászi und Hermann Broch angehörten [18]. Ihr gemeinsames Manifest The City of Man: A Declaration on World Democracy (1940) war von der Forderung eines amerikanischen Kriegseintritts geleitet, um den Kampf gegen Nationalsozialismus und Faschismus in Europa zu führen und die westliche Zivilisation insgesamt zu verteidigen.

Das politische Denken Hans Kohns stand nun im Zeichen eines Antitotalitarismus, der sich nicht minder gegen das stalinistische Sowjetrussland richtete. Mit seinem Beitrag The Totalitarian Philosophy of War (1939), einem Vergleich der italienischen, deutschen und sowjetischen Diktaturen, gehörte Kohn zu den Initiatoren der Totalitarismusforschung. Die Verteidigung liberaler Werte und des Individualismus übertrug er in eine Verteidigung des Westens im Kontext des Kalten Krieges. Im Spiegel des Untergangs des Individuums in kommunistischen und faschistischen Diktaturen sah er einzig in den Staaten des Westens die individuellen Werte der Freiheit und des Rechts bewahrt. 1949 war er Mitbegründer der Gruppe Americans for Intellectual Freedom, einer Vorläuferorganisation des ein Jahr später ins Leben gerufenen Congress for Cultural Freedom; zudem gehörte er zu den führenden Initiatoren der Conference on the North Atlantic Community, die im Dezember 1957 in Brügge stattfand und Kohn ein Forum für seine Vision eines neuen Westens unter amerikanischer Führung bot [17. 48–52].

In seinem Opus magnum The Idea of Nationalism (1944) arbeitete Kohn seine Unterscheidung zwischen Nationalismen westlicher und östlicher Prägung (Kohn-Dichotomie) aus. Gegenüber den westeuropäischen Formationen nationaler Bewegungen, die er als politisch-institutionell beschrieb, weil sie auf die Verwirklichung abstrakter naturrechtlicher Prinzipien und der Freiheit des Individuums innerhalb bereits bestehender Gemeinwesen drängten, kritisierte er den östlichen Begriff des Nationalen wegen seiner ethnischen Fundierung. In den Nationalbewegungen, die Unabhängigkeit und Souveränität gegenüber imperialen Herrschaftsformen erkämpften, sah er durch die Bezugnahme auf nationale Herkunft individuelle und abstrakte Bürgerrechte in den Hintergrund treten [12. 447–454]. Neben der räumlichen Semantisierung machte er die Differenz zudem in der unterschiedlichen Zeitdimension aus, auf die beide sich bezogen. Ost und West verhielten sich zueinander gewissermaßen wie partikulare Herkunft und universelle Zukunft.

Auf dieser Grundlage galten Kohn die Vereinigten Staaten geradewegs als »Land der Zukunft«. Die Werte der Aufklärung und die Freiheit des Individuums mussten hier nicht gegen den absolutistischen Staat erkämpft werden; sie schienen ihm »in Amerika eine Realität geworden« zu sein [12. 399]. Zudem begründete sich das Gemeinwesen von Einwanderern nicht auf langen Gedächtnissen bereits vorgefundener Bevölkerungsgruppen. Amerikaner zu werden, betonte Kohn in seinem Buch American Nationalism (1957), bedeutete deshalb nicht die Assimilation an eine dominante Kultur oder Sprache, sondern die Bereitschaft, »sich selbst zu entwurzeln«, um eine plurale amerikanische Zukunft in den Blick zu nehmen und die Vergangenheit zu diesem Zweck hinter sich zu lassen. Amerikanisierung kam somit einer »spiritualen Transformation« der ethnischen Zugehörigkeit gleich; sie wurde von der Sphäre des Politischen in den Bereich des Privaten verschoben und dadurch konfessionalisiert [13. 142 ff.]. In Amerika schien damit jene Frage beantwortet zu werden, auf die Kohn zeit seines Lebens eine Antwort gesucht hatte: Die Möglichkeit eines gemeinschaftlichen Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Herkunft sah er im amerikanischen Pluralismus verwirklicht. Dieser umfasste zwar nicht die Menschheit, aber weit mehr als das, was das Europa der Nationalstaaten bieten konnte.

Quellen

  • [1] M. Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, Bd. 1: 1897–1918, hg. v. G. Schaeder, Heidelberg 1972.
  • [2] H. Kohn, Jüdische Philosophen, in: Die Welt, 21. März 1913, 370.
  • [3] H. Kohn, Nationalismus. Über die Bedeutung des Nationalismus im Judentum und in der Gegenwart, Wien/Leipzig 1922.
  • [4] H. Kohn, Die politische Idee des Judentums, München 1924.
  • [5] H. Kohn, Zur künftigen Gestaltung Palästinas, in: H. Kohn/R. Weltsch, Zionistische Politik. Eine Aufsatzreihe, Mährisch-Ostrau 1927, 268–291.
  • [6] H. Kohn, Geschichte der nationalen Bewegung im Orient, Berlin 1928.
  • [7] H. Kohn, Aktiver Pazifismus, in: Neue Wege. Blätter für religiöse Arbeit (1929), 82–94.
  • [8] H. Kohn, Nationalismus und Imperialismus im Vorderen Orient, Frankfurt a. M. 1931.
  • [9] H. Kohn, Orient und Okzident, Berlin 1931.
  • [10] H. Kohn, Der Nationalismus in der Sowjetunion, Frankfurt a. M. 1932.
  • [11] H. Kohn, Die Europäisierung des Orients, Berlin 1934.
  • [12] H. Kohn, Die Idee des Nationalismus. Ursprung und Geschichte bis zur französischen Revolution, Heidelberg 1950.
  • [13] H. Kohn, American Nationalism. An Interpretative Essay, New York 1957.
  • [14] H. Kohn, Bürger vieler Welten. Ein Leben im Zeitalter der Weltrevolutionen, Frauenfeld 1965.

Sekundärliteratur

  • [15] L. Fiedler, Habsburger Verlängerungen. Imperienkonzepte im Werk Hans Kohns, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 6 (2007), 477–508.
  • [16] A. Gordon, »En zo ela ahava nikhzevet.« Prishat Hans Kohn meha-tnu’a ha-ẓiyonit [»Es ist nichts anderes als enttäuschte Liebe.« Hans Kohns Rückzug aus der zionistischen Bewegung], in: A. Gordon (Hg.), »Brit Shalom« weha-ẓiyonut hadu-le’umit. »Ha-she’ela ha-arvit« ke-she’ela yehudit [»Brit Shalom« und der binationale Zionismus. Die »arabische Frage« als jüdische Frage], Jerusalem 2008, 67–92.
  • [17] A. Gordon, The Need for West. Hans Kohn and the North Atlantic Community, in: Journal of Contemporary History 46 (2011) 1, 33–57.
  • [18] A. Gordon/U. Greenberg, »The City of Man«, European Émigrés, and the Genesis of Postwar Conservative Thought, in: Religions 3 (2012), 681–698.
  • [19] A. Herzog, »Vom Judentum«. Anmerkungen zum Sammelband des Vereins »Bar Kochba«, in: K. Krolop/H. D. Zimmermann (Hg.), Kafka und Prag, Berlin/New York 1994, 45–58.
  • [20] A. Kedar, Brith Shalom, in: The Jerusalem Quarterly 18 (1981), 55–85.
  • [21] H. Kohn, Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit, Köln 1961.
  • [22] G. L. Mosse, The Influence of the Volkish Idea on German Jewry, in: G. L. Mosse, Germans and Jews. The Right, the Left and the Search for a »Third Force« in Pre-Nazi Germany, New York 1970, 77–115.
  • [23] D. Riesenberger, Hans Kohn (1891–1971) – Zionist und Pazifist, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 41 (1989) 2, 166–174.
  • [24] R. Weltsch, Einleitung, in: M. Buber, Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden, Köln 1963, XIII–XL.
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Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur

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