Im weiteren Sinn umfasst der Begriff B. all jene theatralischen Dichtungen, die auf biblischen Stoffen beruhen; im engeren Sinn bezeichnet er einen im 16. und frühen 17. Jh. v. a. in protest. Territorien verbreiteten dramatischen Typus, dessen Genese und Geltungsgewinn im Kontext humanistischer und (gegen-)reformatorischer Bestrebungen zu sehen sind.
Die fruchtbare Auseinandersetzung humanistischer Gelehrter (Humanismus) mit der antiken Komödie (Terenz) und Tragödie (Seneca) (Antikerezeption) begünstigte die Herausbildung und Durchsetzung neuer theatralischer Gestaltungsprinzipien, die auf eine Symbiose zwischen dem ästhetischen Modell des griech. und röm. Dramas und der ethisch-religiösen Programmatik eines sich reformierenden Christentums zielen. Ungeachtet offenkundiger Anleihen beim geistlichen Spiel des MA konstituiert das B. ein eigenständiges Genre, dessen formale Modernität sich u. a. in der Gliederung in Akte und Szenen manifestierte.
Den Stoff-Fundus des B. bildete die Bibel, wobei sich eine Präferenz für das AT und die apokryphen Schriften des AT abzeichnet. Besonderer Beliebtheit erfreuten sich biblische Figuren wie Abraham (z. B. Théodore de Bèze, Abraham sacrifiant, 1550), Joseph (z. B. Georg Macropedius, Josephus, 1544; Jost van den Vondel, Joseph in Egypten, 1640), Esther (z. B. Anonymus, Godly Queen Hester, um 1525; Hans Sachs, Esther, 1530), David (z. B. Louis des Masures, David combattant/David triomphant/David fugitif, 1566; George Peele, David and Bethsabe, 1599), Judith (z. B. Sixt Birck, Judith, 1539) oder Susanna (z. B. Paul Rebhun, Susanna, 1536; Thomas Garter, The Most Virtuous and Godly Susanna, 1578). Darüber hinaus gehören auch Adam und Eva, Jakob und Esau, Jephta, Hiob oder Tobias zu den im B. immer wieder behandelten Gestalten des AT. Aus dem NT sind es v. a. die Parabel vom verlorenen Sohn (z. B. Burkard Waldis, De parabell vam verlorn Szohn, 1527; Willem Gnaphaeus, Acolastus, 1529) und die Hochzeit zu Kanaa (z. B. Paul Rebhun, Die Hochzeit zu Cana, 1538), die als Vorlage für eine Dramatisierung dienten.
Die bemerkenswerte Verbreitung des B. im 16. Jh. steht in Zusammenhang mit dem hohen Stellenwert, den die Heilige Schrift für die protest. Theologie besaß. Dem Ziel, die Kenntnis der Bibel auch innerhalb illiterater Bevölkerungsgruppen zu fördern, dienten neben einer Reihe von Übersetzungen des hebr. und griech. Urtexts in europ. Sprachen (Bibelübersetzung) auch die Vermittlung biblischer Erzählung im Modus theatralischer Inszenierung. Die überwiegend positive Einschätzung des Dramas durch die frühen Exponenten der lutherischen und calvinistischen Reformation erklärt sich nicht nur aus der durch die szenische Rezitation bewerkstelligten Einübung sprachlicher und rhetorischer Fähigkeiten im Rahmen gymnasialer Erziehung (Lateinschule), sondern v. a. aus den dem Drama inhärenten Möglichkeiten der Vermittlung eines evang. fundierten Wertesystems. Es ist so gesehen nicht verwunderlich, dass neben in lat. Sprache verfassten biblischen Schuldramen eine große Zahl volkssprachlicher Stücke entstand, die sich dort, wo sie (v. a. im süddt.-schweizer. Raum) nicht nur im schulischen Rahmen, sondern im öffentlichen Raum zur Aufführung gelangten, potentiell an die gesamte Bürgerschaft einer Stadt richteten.
Zwar vertrauten nicht nur reformatorisch gesinnte Autoren, sondern auch deren kath. Kontrahenten auf die Wirkung dramatischer Inszenierung (Jesuitendrama), dennoch fällt auf, dass das B. mehrheitlich in zumindest partiell protest. Territorien, d. h. im dt.sprachigen Raum [3]; [4], in den Niederlanden [4], in England [1]; [5] und Frankreich [2], gepflegt wurde. Im Kontext konfessioneller Auseinandersetzung kam ihm zunächst die Funktion zu, die jeweilige theologische Position auf prägnante Weise zu formulieren und den religiösen Gegner zu diffamieren. Der konfessionspolemische Charakter der ersten sich biblischer Stoffe bedienenden Spiele wich bereits gegen die Mitte des 16. Jh.s einer auf religiöse und moralische Didaxe zielenden Haltung. Das B. diente nun primär als Instrument der Popularisierung der im Zuge der Konfessionalisierung ausgebildeten theologischen Dogmen, ethischen Postulate und sozialen Handlungsnormen und – dies gilt insbes. für England – der Stärkung protest. Identität. Mit Blick auf die zu bewältigenden religiösen und profanen Herausforderungen gestaltete es durch die Heilige Schrift legitimierte exemplarische Rollenmodelle, die erst im Laufe des 17. Jh.s, im Zuge einer skeptischeren Beurteilung geistlicher Schauspiele durch protest. Theologen, an Strahlkraft verloren.
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Bibliography
- [1] R. Blackburn, Biblical Drama under the Tudors, 1971
- [2] E. Kohler, Entwicklung des biblischen Dramas des XVI. Jh.s in Frankreich, 1911
- [3] W. Michael, Das dt. Drama der Reformationszeit, 1984
- [4] J. Parente, Religious Drama and the Humanist Tradition. Christian Theatre in Germany and in the Netherlands 1500–1680, 1987
- [5] M. Roston, Biblical Drama in England. From the Middle Ages to the Present Day, 1968.