1. Allgemeines
1.1. Begriff, Periodisierung und Fragestellungen der Forschung
Der engl. Begriff G.D. (»Große Divergenz«) bezeichnet den Prozess, mit dem die westl. Welt (d.h. Westeuropa und seine Siedlerkolonien) die vormodernen wirtschaftlichen Entwicklungshemmnisse überwand und dank des modernen Wirtschaftswachstums zum weitaus wohlhabendsten Teil der Welt wurde. Der Terminus wurde von Kenneth Pomeranz in die Wirtschaftsgeschichte eingeführt [26]. Die G.D. kann aus unterschiedlichen Blickwinkeln anhand von 4 zentralen Fragen untersucht werden: (1) Wie konnte das moderne Wirtschaftswachstum überhaupt entstehen? (2) Warum trat es zuerst in Großbritannien, danach in Westeuropa auf? (3) Wie konnten sich ihm bestimmte Länder, die bis auf Japan allesamt der westl. Welt angehörten, anschließen? (4) Weshalb aber gelang dies den meisten Ländern nicht? Die aktuelle Debatte konzentriert sich auf die beiden ersten dieser Fragen, d.h. auf das früheste Beispiel modernen Wirtschaftswachstums. Dabei ist der Unterschied zwischen den beiden ersten Fragen häufig verwischt worden.
Die meisten Ansätze stimmen darin überein, dass die G.D. ein Phänomen des 18. und v.a. des 19. Jh.s war. In welchem Ausmaß die damals fortschrittlichsten Wirtschaften der Welt sich bereits früher anders und dynamischer als die übrigen entwickelt hatten, ist Gegenstand der Diskussion, ebenso die Frage, ob die G.D. ein relativ plötzliches, unvorhersehbares Ereignis darstellte oder vielmehr eine lange Vorgeschichte besaß. Verweise auf Antike und MA fehlen zwar nicht [8]; [18]; [20], doch konzentriert sich der Großteil der Forschungsliteratur auf die Epoche von etwa 1450 bis 1850 als derjenigen Zeitspanne, welche die Schlüssel zur Erklärung des Phänomens bereithält.
Die Debatten zur G.D. waren lange fast ausschließlich auf den Vergleich der Lage in ›China‹ und in ›Europa‹ fokussiert, wobei ›China‹ oft verkürzt für dessen hochentwickelte Regionen bes. im Yangtse-Delta stand, ebenso ›Europa‹ für ›Westeuropa‹, häufig sogar für ›Großbritannien‹ [35. 256–270]. Ohne Zweifel war dieses Land tatsächlich in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich (vgl. British Empire). Die Forschung ist sich größtenteils darin einig, dass Großbritannien nicht zufällig die erste (große) Industrienation war (vgl. Industrialisierung) und dass es diesen alleinigen Rang mehrere Jahrzehnte lang nicht durch Zufall einnahm. Dass jedoch – abgesehen von Japan – nur westl. Länder im Verlauf des langen 19. Jh.s aufholten, legt nahe, dass das nzl. und moderne Wirtschaftswachstum (auch) wesentliche ›westl.‹ Wurzeln hatte.
1.2. Ursachen und Voraussetzungen
Der unmittelbare Hauptgrund der G.D. lag darin, dass Teile der westl. Welt, angefangen mit Großbritannien, ein modernes ökonomisches Wachstum erfuhren, das im Rest der Welt ausblieb. Dieses Wachstum wird als substantiell definiert – in der Regel mehr als ein Prozent pro Jahr – und führte zum Anstieg des Pro-Kopf- Realeinkommens. Es beruhte auf dem Wandel des Einsatzes von Energien, der Technik ( Wandel, technischer) und der Institutionen, z.B. im Bereich der ökonomischen oder polit. Ordnung, und ging gewöhnlich mit Bevölkerungs-Wachstum und der ansteigenden Bedeutung von Industrie, Dienstleistungssektor sowie Außenhandel einher.
Im Zentrum des Übergangs zum modernen Wirtschaftswachstum stand die Industrialisierung. Dies bedeutete (1) den Ersatz menschlicher Fertigkeit und Leistung durch Maschinen, (2) die Ablösung menschlicher und tierischer Arbeitskraft (Muskelkraft) durch unbelebte Energiequellen, v.a. mit der Erfindung von Maschinen, die Hitze in Arbeitsleistung verwandelten (vgl. Dampfmaschine), sowie (3) neue, in größerem Umfang verfügbare Rohstoffe (Ressourcennutzung), namentlich aufgrund der Substitution von pflanzlichen oder tierischen Substanzen durch mineralische, schließlich auch synthetisch hergestellte Materialien. Die Industrialisierung verlief in den westl. Ländern nicht parallel und auch nicht zeitgleich (Ungleichzeitigkeit). Die Bedeutung von ›Industrie‹ und ›Industrialisierung‹ veränderte sich mit der Zeit. Dabei war der Wandel nicht auf die Industrie beschränkt. Er wirkte auch in der Landwirtschaft und in den Dienstleistungsgewerben.
2. Theorien und Forschungsgeschichte
2.1. Max Weber und (neo-)marxistische Ansätze
Viele Jahrzehnte lang hat man die G.D. als das Ergebnis einer langen und außergewöhnlichen ›westl.‹ oder ›europ.‹ Entwicklung verstanden. Die meisten Bestandteile dieser Meistererzählung von einem Sonderweg finden sich bereits im Werk Max Webers [37]. Aus seiner Sicht verlief die histor. Entwicklung des Westens grundlegend anders als in anderen Teilen der Welt. Nirgendwo sonst sei das öffentliche Leben so rationalisiert gestaltet gewesen. Im Bereich der Ökonomie habe sich diese Rationalisierung im Kapitalismus gezeigt, charakterisiert durch das Vorherrschen von Privatbesitz, durch privates Unternehmertum im Sinne von rational kalkuliertem wirtschaftlichen Agieren und einer Trennung von Familie und Unternehmen, durch formell freie Märkte für Waren, Dienstleistungen, Arbeit und Kapitalformen sowie durch die Ausbildung einer Klassengesellschaft (Gesellschaft). Der westl. Kapitalismus erforderte dementsprechend eine rationale Regelung der Öffentlichkeit. Diese wurde von den bürokratischen Staaten, die einen gesetzlich geordneten Rechtsraum schufen, zunehmend geleistet. Der Aufstieg der mod. Wissenschaft und Technologie ist eine weitere grundlegende Ausdrucksform der westl. Rationalisierung in Webers Schriften. Seine Ideen erlangten enormen Einfluss; viele werden bis heute weitgehend befürwortet.
Dasselbe gilt auch für Karl Marx. Eine ganze Reihe seiner Aussagen sind tatsächlich denen Webers recht ähnlich, wobei Letzterer jedoch einen weit globaleren komparativen Ansatz wählte. Auch für Marx spielte der Kapitalismus eine tragende Rolle. Trotz all seiner negativen Auswirkungen – insbes. der Kommodifizierung und Ausbeutung menschlicher Arbeit – habe dieser zu einem niemals dagewesenen Anstieg der Produktivität, zunächst und primär in Großbritannien, dann auch in anderen Regionen des Westens geführt. Die kapitalistische Produktionsweise wurde, so Marx, von den entstehenden nzl. Staaten geschützt und häufig sogar praktisch durchgesetzt. Die Rolle der Technik – und somit letztlich der Wissenschaft, wenn er dies auch kaum ansprach – ist in Marx' Werk so prominent, dass man ihm oft einen technologischen Determinismus vorgeworfen hat. Marx' Denkansatz und allgemeine Interpretationen sind wie diejenigen Webers weiterhin wirkmächtig.
Verschiedene Theoretiker haben den Marx'schen Ansatz ›globalisiert‹ und dabei die Mechanismen der Kommodifizierung, Kapital-Akkumulation und Ausbeutung im internationalen Kontext herausgegriffen und dabei den ›ungleichen Austausch‹ zwischen den Weltregionen hervorgehoben. Der Gedanke, dass der ökonomische Aufstieg Westeuropas untrennbar mit dessen Stellung in der Weltwirtschaft verbunden war, wurde in der Dependenztheorie seit den 1950er Jahren und später in der Weltsystem-Theorie ausgearbeitet, wie sie Fernand Braudel [5] und Immanuel Wallerstein vertraten [36].
Namentlich Wallerstein betrachtet das moderne Wirtschaftswachstum und die Industrialisierung in westl. Ländern als eine Konsequenz ihrer zentralen Position, die sie im Zuge der weltweiten Arbeitsteilung erlangten. Sog. Kernregionen sind auf die Fertigung und den Export von Waren mit hohem Mehrwert spezialisiert: Sie importieren billig produzierte Rohstoffe aus den Peripherien; ihre Erwerbstätigen umfassen in erster Linie vergleichsweise freie, relativ gut bezahlte und gut ausgebildete Arbeitskräfte. Zu diesen Regionen zählen nach Wallerstein starke Staaten, die auf die Peripherien Einfluss ausüben können. Diese wiederum sind auf die Bereitstellung und den Export von Rohstoffen (Ressourcennutzung) spezialisiert; sie umfassen schwache Staaten und stützen sich auf ein großes, billiges, mehrheitlich ungelerntes Arbeitskräftepotential, oft auf Zwangsarbeit. Ab dem 16. Jh. hätten westl. Kernstaaten begonnen, andere Weltteile in ihr System zu integrieren. Unter ihnen erlangte Großbritannien im 18. Jh. die Hegemonie und errichtete ein riesiges Reich (British Empire). Dies sollte das Land in die Lage versetzen, die Grundfesten einer modernen und wachstumsstarken Wirtschaft zu errichten (Raumforschung, historische 2.6.) [36. Bd. 3] (vgl. dazu [24]; [38]).
2.2. Die California School
Zugegebenermaßen erlangten die Weber'schen und (neo-)marxistischen Sichtweisen niemals ein Monopol. In Eric Jones' einflussreichem Werk z.B. spielen auch die Geographie und die Demographie (Bevölkerung) eine große Rolle [15]. Doch in den letzten beiden Jahrzehnten ist das Aufkommen einer grundlegend anderen, weniger eurozentrischen Perspektive bei der Betrachtung des (wirtschaftlichen) Aufstiegs des Westens zu bemerken. Die bekanntesten Namen bei der Erforschung der G.D. sind André Gunder Frank [11], Kenneth Pomeranz [26] und Roy Bin Wong [39]; sie werden häufig in Zusammenhang mit der sog. California School genannt.
Beim Vergleich des Westens mit dem ›Rest der Welt‹, insbes. Ostasien, konzentrieren sich die sog. Californians und von ihnen beeinflusste Forscher meist auf ›Ähnlichkeiten‹, ›Gemeinsamkeiten‹ sowie ›Parallelen‹, und in weit geringerem Ausmaß auf den europ. Sonderstatus oder Sonderweg (exceptionalism). Sie bevorzugen den ›reziproken Vergleich‹, bei dem weder (West-)Europa noch ein anderer Weltteil als ›die Norm‹ fungieren. Sie heben hervor, dass die G.D. erst spät auftrat, im ausgehenden 18. oder gar erst im 19. Jh., und zwar relativ plötzlich, wobei sie erklären, dass bis dahin Westeuropa nicht reicher oder weiter entwickelt war (wenn man es überhaupt so bezeichnen kann) als die fortschrittlichsten anderen Regionen Eurasiens. Für diese Forschungsrichtung ist die G.D. keineswegs die logisch folgende oder unvermeidbare Konsequenz eines langfristigen europ. Exzeptionalismus – jedenfalls nicht im Sinne einer kulturellen oder institutionellen Überlegenheit [12]; [32].
V.a. die Anhänger der Theorie Wallersteins haben das frühnzl. Westeuropa immer als den Kern eines sich herausbildenden westl. Weltsystems betrachtet. Auch diese Sichtweise ist nun relativiert und von Frank ausdrücklich abgelehnt worden [11]. Er erklärte, dass es bereits in der Frühen Nz. eine tatsächlich globale Wirtschaft gab, deren Zentrum Asien oder genauer China war. Die großen asiat. Wirtschaften waren keineswegs Peripherien des Westens. In Ländern wie China oder Japan waren Kaufleute aus dem Westen eigentlich nur geduldet. Die Handelsgüter, die sie mitbrachten, beschränkten sich fast ausschließlich auf Edelmetall, während ihre Exporte – abgesehen von Waren, für die Asien ein natürliches Monopol besaß (z.B. Gewürze oder Tee) – aus Manufakturerzeugnissen mit hohem Mehrwert wie Textilien oder Porzellan bestanden (vgl. Chinahandel; Indienhandel; Silber; Welthandelsgüter; Ostasiatische Wirtschaft). Ähnlich verhielt es sich in Indien.
Die Forschung stellt nicht in Abrede, dass sich der ›Westen‹ und der ›Osten‹ im 19. Jh. ökonomisch auseinander entwickelten und eine Divergenz eintrat. Pomeranz, der einflussreichste Vertreter der Californians, nimmt bei deren Erklärung die unterschiedlichen Entwicklungen Großbritanniens und Chinas in den Blick. Er führt diese Unterschiede auf den »glücklichen Umstand« zurück [26. 12, 16, 68, 241], dass Großbritannien Kohle besaß und landintensive Primärressourcen wie z.B. Baumwolle und Zucker einführen konnte. Der massenhafte Einsatz von reichlich und relativ einfach zugänglicher Kohle verschaffte dem Land praktisch unbegrenzten Nachschub an billigem Heizmaterial und somit, dank der Dampfmaschine, an Energie. Dies ermöglichte nachhaltiges Produktivitäts-Wachstum.
China hingegen entbehrte, so Pomeranz, reichlich und leicht beschaffbare Kohle (eine Sicht, welche die meisten Spezialisten nicht teilen); Großbritannien habe sich allein dank seiner Rohstoff- und Lebensmittelimporte auf großangelegte Manufakturen und Dienstleistungen spezialisieren können [26]. Hierzu haben Kritiker angemerkt, dass diese Spezialisierung nur möglich und sinnvoll war, wenn Importe effizient zu preisgünstigen Exporten verarbeitet werden konnten, nach denen Nachfrage bestand. Ohne nachhaltige Innovation wären der Effekt der Kohle und die Möglichkeiten von Import und Export viel geringer gewesen [33. 290–305].
Sowohl Frank auch als Wong (mit Jean-Laurent Rosenthal) erklären die divergierenden ökonomischen Wege Westeuropas und Chinas durch den Verweis auf unterschiedliche relative Faktorpreise (d.h. die Preise für die benötigten Produktionsfaktoren auf den Beschaffungs- bzw. Faktormärkten; vgl. Produktivität; Markt 2.) [11]; [27]. In China wurde im Lauf der Nz. Lohnarbeit relativ billig, Rohstoffe, Energie und Geld in Form von Krediten im Gegensatz dazu relativ teuer. In Großbritannien und in geringerem Ausmaß auch in Westeuropa verhielt sich dies umgekehrt. Daher entwickelte sich die Wirtschaft in China in eine immer arbeitsintensivere Richtung, während sie in Westeuropa einen kapitalintensiveren, innovativen Weg einschlug. Frank greift Mark Elvins Analyse der frühnzl. Geschichte Chinas auf, der zufolge dessen ökonomische Effizienz und Erfolge zu einem starken Bevölkerungswachstum und damit zu Ressourcenverknappung und niedrigen Löhnen führten [9. 285–316]; [11. 298–308].
Rosenthal und Wong argumentieren, dass Manufakturen in Europa aufgrund der Häufigkeit von Kriegen sich auf die Städte konzentrierten, wo Investitionen besser geschützt, aber Löhne höher waren als auf dem Land; sie postulieren also eine Verbindung zwischen Lohnniveau und Innovation. Dazu wurde kritisch festgestellt [33. 184–189]; [35]; [40], dass in Großbritannien, das aufgrund seiner Insellage kaum direkt von Kriegen heimgesucht wurde, sich die Industrialisierung zunächst gerade auf dem Land durchsetzte, wo die Löhne relativ niedrig waren. Generell ist der Bezug auf geographische Umstände und die Verfügbarkeit von Ressourcen beliebt geworden, um die großen Unterschiede im Reichtum der Nationen zu erklären (etwa bei [8]; [20]), doch ist nur schwer aufzuzeigen, wie relativ stabile Rahmenbedingungen die anhaltenden Prozesse wirtschaftlicher Divergenz erklären können.
2.3. Von der California School angeregte Ansätze
Die neuen Ansätze der California School hatten Folgen. Die aktuellen Diskussionen haben jedenfalls zu systematischer Datensammlung und -konstruktion geführt, zur Einbeziehung einer größeren Anzahl von Regionen und zu verstärkter Differenzierung nach Zeit und Ort. Es konnte aufgezeigt werden, dass Nordwesteuropa bereits reicher als der Rest Europas (und anderer entwickelter Weltgegenden) gewesen war, bevor die Industrialisierung in Großbritannien zum Zuge kam. Dieses Phänomen wird als »Kleine Divergenz« (Little Divergence) bezeichnet [34. 268–270].
Der Kapitalismus, unter den Californians als Erklärungsmodell nicht beliebt, scheint als solches zurückgekehrt zu sein. Seine klassische marxistische Ausprägung, die von einer klaren Abfolge von Produktionsweisen ausgeht, ist widerlegt worden, aber nun hat eine Reihe von Forschern weniger rigide, dafür zweckdienlichere Interpretationen vorgelegt [4]; [5]; [16]; [21]; [36]. Damit sind in der Debatte zur G.D. in erster Linie Auslegungen gemeint, die auf die transnationalen Verzweigungen und Konsequenzen des Kapitalismus abheben. Eine Diskussion des Kapitalismus bedeutet auch die Rede von Märkten. Regionen, die eine Industrialisierung erfuhren, wiesen demnach eine gute Marktintegration auf. Eine einfache Erweiterung und Integration von Märkten hätte jedoch nicht notwendig ein modernes Wirtschaftswachstum zur Folge gehabt. Hierfür wäre permanente Innovation erforderlich gewesen [19].
Auch bei Märkten muss man differenzieren. In verschiedenen Teilen Europas, insbes. in dessen Nordwesten, gab es tatsächlich einen entwickelten Arbeitsmarkt und eine große Zahl von Lohnarbeitern. In Mittel- und Osteuropa hingegen war die Lage ganz anders. Letztendlich wurde hier die bäuerliche Leibeigenschaft erst sehr spät abgeschafft: 1806 in Preußen, 1848 in weiten Teilen der Habsburgermonarchie und 1861 im Russländischen Reich (vgl. Ländliche Gesellschaft; Feudalgesellschaft). In diesen Ländern bestanden auch die traditionellen Zünfte und Gilden noch bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jh.s fort. Nordwesteuropa mag den besten Geldmarkt der Welt besessen haben – wenn Zinssätze hierfür ein guter Indikator sind –, aber Märkte für Waren- oder Land- und Grundbesitz waren hier nicht augenfällig freier als etwa im China der Qing-Zeit (1644–1911; Ostasiatische Gesellschaften 2.), und für Konsumgüter waren sie vielleicht sogar weniger frei als in China [26. 69–107].
In westeurop. Ländern versuchten die meisten Herrscher, die Bildung integrierter Binnenmärkte zu forcieren (Wirtschaftspolitik), während sie gleichzeitig in der Außenpolitik bis weit ins 19. Jh. häufig Monopole unterstützten und im Sinne des Protektionismus agierten. In Untersuchungen der G.D. und des capitalism in action verschiebt sich der Fokus auf die Rolle der Manipulation des Wettbewerbs und auf Zwangsmaßnahmen. Die Rolle von Gewalt und Macht bei der Schaffung von Handelsmustern und Produktionsformen erfährt mehr Aufmerksamkeit [4]; [10]; [13]. Elemente des Zwanges – und der staatlichen Intervention – spielten offenkundig bei der Entstehung des westl. modernen Wirtschaftswachstums eine große Rolle, sogar in Ländern, die oft als ökonomisch liberal gelten, etwa Großbritannien und den USA. Wenn man den Kapitalismus als von freiem und fairem Wettbewerb geprägt beschreibt und den Staat dabei als absent definiert, war dies sicherlich nicht typisch für Europa.
Eine Fokussierung auf den Kapitalismus bedeutete üblicherweise einen Fokus auf Angebot und Kapital-Akkumulation. In neueren Diskussionen zur G.D. nimmt auch der Konsum eine zentrale Stellung ein [29]; [30]. Viele Gebiete der Welt erfuhren hierbei in der Nz. starke Veränderungen. Teile Westeuropas scheinen eine Sonderstellung einzunehmen, da sie Produkte wie Baumwolle und Porzellan einführten, welche Bestrebungen zur Importsubstitution anregten, die ihrerseits die Industrialisierung beförderten. Im Falle Großbritanniens ist diese Verbindung von sich wandelnden Konsummustern, Importsubstitution und Industrialisierung sehr markant.
3. Voraussetzungen des Wirtschaftswachstums
3.1. Die Rolle des Staatstypus
In klassischen Mainstream-Studien galt es als die Aufgabe des Staates, im Sinne der Förderung des modernen Wirtschaftswachstums einfach dafür zu sorgen, dass der Markt optimal und ungehindert funktionieren kann. Institutionelle Ökonomen, etwa Douglass North und Robert Thomas, hoben speziell die Rolle des Staates beim Schutz von Eigentums-Rechten hervor [23]. Später erweiterte North zusammen mit seinen Kollegen John Wallis und Barry Weingast die Perspektive; sie versuchten zu definieren, in welchem Staatstypus sog. open-access orders entstehen könnten [22]. In solchen Staaten wird die ungesetzliche militärische und polizeiliche Gewaltanwendung in Schach gehalten, kann das polit. System ökonomische Interessen nicht manipulieren und verlieren polit. Gruppierungen, die ihren militärischen Einfluss missbrauchen, ihr Amt.
In der jüngeren Forschung haben Daron Acemoglu und James Robinson ähnlich argumentiert: Gesellschaften mit inklusiven Institutionen wie z.B. einer konstitutionell oder über die Existenz eines Parlaments eingeschränkten Monarchie seien dem Wachstum förderlich. Solche Institutionen »verteilen die Macht pluralistisch auf breiter Basis und sind in der Lage, eine gewisse polit. Zentralisierung zu erreichen, um so Gesetz und Ordnung, die Grundlage gesicherter Eigentumsrechte und eine inklusive Marktwirtschaft zu etablieren« [1. 430]. Inklusive ökonomische Institutionen »setzen Eigentumsrechte durch, schaffen gerechte Wettbewerbsbedingungen und regen Investitionen in neue Technologien und Fertigkeiten an« [1. 429]. Die genannten Forscher betrachten (Groß-)Britannien nach der Glorious Revolution (1688/89) als das erste Land mit dem geeigneten Staatstypus und daher auch als das erste Land mit modernem Wirtschaftswachstum. Einflussreiche Wirtschaftshistoriker vertreten ähnliche Standpunkte [17]; [19].
Jedoch gewinnt nun auch eine ganz andere Sicht an Boden. Sie rehabilitiert bzw. überdenkt die Rolle des Merkantilismus und des fiskal-militärischen Staats bei der Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums. Sie unterstreicht, dass Großbritannien als die erste Industrienation und zugleich der stärkste fiskal-militärische Staat der Welt bis weit ins 19. Jh. hinein merkantilistisch orientiert war. Insgesamt erfährt die proaktive Rolle des Staates bei der ökonomischen Entwicklung mehr Aufmerksamkeit. Es kann sich um keinen Zufall handeln, dass die (westl.) Länder, die zu den reichsten und am weitesten fortgeschrittenen der Welt wurden, zugleich diejenigen Staaten waren, welche die wirtschaftliche Entwicklung bes. aktiv förderten [31]; [41].
3.2. Die Bedeutung von Wissenschaft und Technologie
Die Bedeutung der Wissenschaft zu Beginn der ersten Industriellen Revolution im 18. und frühen 19. Jh. ist relativiert worden, kann aber nicht völlig bestritten werden. Zahlreiche technische Innovationen ( Technologie) der Industrialisierung in Großbritannien setzten keine wiss. Kenntnisse voraus; sie waren in erster Linie Ergebnis von Ausprobieren und Basteln. Die Dampfmaschine jedoch und eine Reihe anderer wichtiger neuer technischer Erfindungen hatten ihre Basis in der Wissenschaft. Die fortschreitenden Veränderungen der Produktion, welche die Industrialisierung und das Wirtschaftswachstum von Anfang an kennzeichneten, erforderten in jedem Fall systematisches, rationales und empirisches Denken (Wandel, technischer). Die theoretische Wissenschaft war ein europ. Phänomen [6]; [19]. Der Unterschied, der dazu beitrug, dass gerade Großbritannien zur ersten Industrienation wurde, lag in der dort gegebenen Verbindung von Anwendung und praktischen Verbesserungen, im intensiven Austausch zwischen Handwerkern, Ingenieuren, Unternehmern und Wissenschaftlern sowie in der hohen Zahl von Mechanikern (Schlosser). Ohne intensive Beteiligung der Wissenschaft wäre die erste Industrielle Revolution im Sand verlaufen [14]; [19].
Die zweite Industrielle Revolution in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s mit ihrem Schwerpunkt auf der chemischen Industrie ( Chemische Gewerbe 3.) und der Erzeugung von Elektrizität und Stahl, ganz zu schweigen von späteren Neuerungen, wäre ohne systematische Investition in Forschung, Entwicklung und Bildung unmöglich gewesen. Westl. Länder hatten hierbei sicherlich einige Vorteile, die ihnen die Industrialisierung erleichterten.
In diesem Zusammenhang wird zunehmend betont, dass sich zu Beginn der G.D. die technologische Führung des Westens auf Sektoren konzentrierte, in denen die Faktorpreise die Mechanisierung stark beförderten. Laut Robert Allen trat bei der Industrialisierung Großbritanniens die Mechanisierung in solchen Sektoren auf, in denen sie aufgrund relativ hoher Löhne und relativ niedriger Energiekosten und Zinsen profitabel war [2]; [3]. Elvin, Frank, Rosenthal und Wong haben ähnlich argumentiert (s.o. 2.2.). Allens These wird kontrovers diskutiert. Die brit. Regionen, die sich zuerst industrialisierten, wiesen zunächst relative niedrige Löhne auf; andererseits fand eine Reihe von Innovationen in Gegenden statt, wo Ressourcen teuer waren [33. 199–214].
3.3. Der Beitrag der Protoindustrialisierung
In den 1970er Jahren gab es eine intensive Debatte über die Protoindustrialisierung, d.h. die zunehmende Einbindung bäuerlicher Familien in die markorientierte Produktion von Manufaktur-Gütern v.a. im Verlagssystem. Die Menschen begannen, zunehmend härter und länger zu arbeiten, und zwar für Lohn, was ihre Markteinbindung und -orientierung verstärkte (Lohnarbeit). Eine Reihe von Forschern hat angenommen, dass es sich in Westeuropa hierbei um eine Übergangsphase zur ›wirklichen‹ Industrie handelte – eine These, die verworfen wurde [25].
In der jüngeren Forschung hat jedoch Jan de Vries erneut eine Verbindung zwischen gesteigertem Arbeitsfleiß und modernem Wirtschaftswachstum postuliert, zumindest für Teile Nordwesteuropas [30]. In Studien zur Protoindustrialisierung liegt der Schwerpunkt auf dem Druck und der treibenden Kraft der Armut [25]. De Vries hingegen hebt die Konsequenzen von (neuen) Konsum-Bedürfnissen hervor: Immer mehr Menschen wollten länger und härter für Lohn arbeiten, um bestimmte – häufig importierte – Güter erwerben zu können [30]. In Großbritannien war offenbar eine Verbindung zwischen gesteigertem Konsum, Importsubstitution und Industrialisierung gegeben (s.o. 2.3.).
Modernes Wirtschaftswachstum bedeutet beständige Innovation (vgl. Wandel, technischer). Die allgemein vertretene Ansicht war lange, dass sich diese im Rahmen von Freiheit, Wettbewerb und Protektionismus in Form von Patenten entfalten konnte. Dabei ist auffällig, dass in mehreren jüngeren Publikationen die Rolle der Zünfte und des Lehrlingssystems (Lehrzeit), die meist als konservative, innovationshemmende Institutionen betrachtet wurden, nun wegen der von ihnen ausgeübten Ausbildung und Qualitätskontrolle positiver beurteilt wird [35. 289–294]. Die Bedeutung von Patenten für die Entstehung des Wirtschaftswachstums ist stark relativiert worden [19].
Weitere komparative Studien zu Unternehmern und Unternehmen sind ein Desiderat. Aktuell wird die Rolle des Humankapitals in der G.D. im Sinne des gesamten Arbeitskräftepotentials umfassender untersucht, insbes. bezüglich dreier Themen: (1) seiner Qualität, d.h. seine Fertigkeiten und Fähigkeiten, (2) der Funktion der Disziplin und (3) der Rolle von Frauen am Arbeitsmarkt. Bei allen drei Aspekten scheint es gewisse Unterschiede zwischen dem Westen und der übrigen Welt gegeben zu haben [35. 289–294].
4. Fazit
Generell betrachtet ist der Revisionismus der California School (s.o. 2.2.) in vielen Punkten widerlegt worden. Teile Westeuropas befanden sich bereits vor der G.D. auf einem anderen Kurs als der Rest der Welt. Dennoch ist klar geworden, dass bezüglich Reichtum und Entwicklung die Unterschiede zwischen dem Westen und bestimmten anderen Weltteilen, v.a. Ländern Asiens, vor der Industrialisierung relativ klein waren. Die Diskussion darüber, wie und woraus das nzl. Wirtschaftswachstum entstand, ist jedoch noch lange nicht abgeschlossen.
Verwandte Artikel: Industrialisierung | Periodisierung, globale | Wandel, technischer | Weltsystem | Weltwirtschaft | Wirtschaftswachstum | Ungleichzeitigkeit
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