1. Theoretische Grundlagen der Poetik
1.1. Begriff
Das Wort D. (griech. dráma) ist eine Ableitung aus dem (dorischen) Verb dran (»tun«, »handeln«, »mit dem Körper agieren«). Bereits die griech. Antike verwendete D. gattungstypologisch als Oberbegriff für Tragödie und Komödie, die sich von anderen Gattungen wie dem lyrischen Gedicht, dem Epos oder der Geschichtsschreibung durch die Dominanz einer Handlung unterscheiden, die von Figuren dargestellt wird: Aristoteles bezeichnete in seiner Schrift Perí poiētik椃s (»Von der Dichtkunst«, etwa 335 v. Chr.) dichterische Werke als D., die »sich Betätigende« nachahmen [1. Kap. 3].
Trotz dieser klaren literaturtheoretischen Definition, ihrer Adaptation durch Horaz' Ars poetica (etwa 18 v. Chr.) und einer breiten Rezeption der aristotelischen Poetik seit dem 15. Jh. konnte sich D. als Gattungsbegriff (Gattungsgeschichte) im dt. Sprachraum erst im Laufe des 19. Jh.s – durch den Einfluss klassizistischer franz. Literaturtheorien – zunächst v. a. in poetologischen Schriften durchsetzen: In der Frühen Nz. wurde er auch für die Oper verwendet, für Tragödie und Komödie finden sich statt dem allgemeinen D. sowohl in der Poetik (z. B. in Martin Opitz' Buch von der deutschen Poeterey, 1624, und in Johann Christoph Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst, 1730) als auch in der lit. Praxis die aus dem Inhalt deduzierten Bezeichnungen »Komödie« (z. B. Jakob Bidermanns Cenodoxus, 1635) und »Trauerspiel« (z. B. Andreas Gryphius' Catharina von Georgien, 1657), schließlich »Stück«, bzw. für die Komödie »Lustspiel« (z. B. Lessings Der junge Gelehrte, 1754), späterhin insbes. für die Tragödie das allgemeinere »Schauspiel« (z. B. Goethes Götz von Berlichingen, 1773, oder Iphigenie, 1779).
Im 19. Jh. verwendeten z. B. Kleist (Penthesilea, 1807) oder Hebbel (Agnes Bernauer, 1852) wieder das altbewährte »Trauerspiel«. In Hegels Ästhetik (1835) erhält der Begriff D. schließlich seinen festen poetologischen Ort, wobei in Bezug zur dorischen Herkunft des Wortes bes. die Sinnlichkeit des dramatischen Kunstwerkes wegen seiner nicht nur möglichen, sondern auch nötigen szenischen Aufführbarkeit von Handlungen hervorgehoben wird [5. 475–510]. Gustav Freytag gab in seiner Technik des Dramas (1863) als Gattungen die mittlerweile geläufigen Bezeichnungen »Lustspiel«, »Trauerspiel« und »Schauspiel« an, wobei er Letztere als die »zwei Arten des ernsten Dramas« bezeichnete [2. 98]. Zum Ende des 19. Jh.s subsumierte der Begriff D. alle Spielformen, denen meist ein schriftlicher Text zugrunde lag, neben Tragödie und Komödie auch die Oper – streng genommen jedes szenische Arrangement (wie etwa Pantomime, Puppen- oder Schattenspiel). Konstitutiv war jeweils der Aspekt der durch Figuren direkt dargestellten Handlung.
1.2. Leitkategorien der aristotelischen Dramentheorie
Unter Berücksichtigung der Etymologie des Wortes dran führte Aristoteles im sechsten Kapitel seiner Poetik mit den Begriffen mímēsis und mýthos zentrale Kategorien der D.-Theorie ein: Das D. bzw. die Tragödie hat als Gegenstand die Mimesis, die »Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung« [1. Kap. 6], die nicht erzählt oder berichtet, sondern von Figuren dargeboten und auf der Bühne unmittelbar inszeniert werden kann. Als die Nachahmung von Handlung bezeichnet Aristoteles den mýthos, die Zusammenfügung der Geschehnisse. Im Unterschied zu den in der Geschichtsschreibung berichteten Handlungen, die sich tatsächlich ereignet haben, müssen die dramatischen Handlungen nicht unbedingt tatsächlich geschehen sein, sondern sie ahmen mögliche Lebenswirklichkeiten nach: das, was geschehen könnte. Nicht der gewöhnliche Mensch betritt die Bühne der griech. Polis, sondern exemplarische Figuren des griech.-röm. Sagenkreises. Denn Handlungen sollen nicht Menschen nachahmen, sondern »Charaktere«, um an deren Schicksal zu lernen. Das D. probiert und analysiert anhand allseits bekannter mythologischer Geschichten mögliche menschliche Verhaltensweisen.
Aus diesem Aspekt der nachahmenden Handlung resultieren zwei konstitutive Unterschiede zu lyrischen und narrativen Texten: die Unmittelbarkeit der Figurenrede und die potentiell immer mitzudenkende Aufführbarkeit des schriftlichen D.-Textes. Alles, was geschieht, gedacht und gefühlt wird, vermitteln sprechende Figuren. An die Stelle eines allein reflektierenden Ichs oder des kommentierenden Erzählers, der sich, insofern auktorial, an mehreren Orten gleichzeitig befinden könnte, tritt die Figurenrede. Bereits Platon verwies implizit auf das »Redekriterium« [20. 20] der dramatischen Gattung: »Und jetzt denke ich Dir schon deutlich zu machen […], dass von der gesamten Dichtung und Fabel einiges ganz in Darstellung besteht, wie du sagst, die Tragödie und Komödie, anderes aber in dem Bericht des Dichters selbst, welches du vorzüglich in den Dithyramben finden kannst, noch anderes aus beiden verbunden, wie in der epischen Dichtkunst […]« [10. 394c]. Das Kriterium der Rede bestimmte die Form des D., sein vorwiegend dialogisches Moment. Diese Unmittelbarkeit wird noch verstärkt, wenn das D. nicht nur gelesen, sondern auch aufgeführt wird. Bestimmte Formen der Reflexion, die die Lektüre des schriftlichen D.-Textes bietet, entfallen bei seiner Aufführung, für die das D., abgesehen vom Lese-D., in den meisten Fällen gedacht ist, auch wenn die Wurzeln des Begriffs nicht zwingend auf eine schriftliche Textgrundlage hinweisen.
Für die ersten Zuschauer der griech. D. im 6. und 5. Jh. v. Chr. gab es vermutlich nur die Aufführung, da die D.-Texte in schriftlicher Form weithin nicht zugänglich waren. Kommuniziert wurden die Stücke im Theater. Aristoteles verfasste seine Poetik erst im 4. Jh. v. Chr., nach der Blütezeit des griech. Theaters, das seine politische Funktion in der Polis eingebüßt hatte. Die klassischen Stücke (des Aischylos, Sophokles, Euripides, Aristophanes) wurden zu seiner Zeit noch gespielt, oft jedoch nicht in Gänze, sondern nur in ihren wirksamsten Teilen, aufgeführt auch von professionellen Wandertruppen – ähnlich denen im 17. Jh. in Europa.
Dass Aristoteles seine Poetik vorwiegend aus Textzeugen entwickelte, könnte der Grund dafür sein, dass er der Inszenierung einen geringen Rang zuwies: »Die Inszenierung vermag zwar die Zuschauer zu ergreifen; sie ist jedoch das Kunstloseste und hat am wenigsten etwas mit Dichtkunst zu tun. Denn die Wirkung der Tragödie ( kátharsis) kommt auch ohne Aufführung und Schauspieler zustande« [1. Kap. 6; vgl. auch Kap. 14]. Vermutlich hätte Aristoteles' Poetik andere Akzente gesetzt, wäre sie anhand von tatsächlichen Aufführungen konzipiert worden. In jedem Fall ist die D.-Geschichte der Nz. ohne diesen kurzen und prägnanten Text, der klare dramentheoretische Kategorien vorgibt, nicht zu denken.
1.3. Poetik des Dramas: Aristotelesrezeption und Regelpoetiken
Zu Beginn der Rezeption der aristotelischen Poetik in der Frühen Nz. steht ihre Übersetzung ins Lateinische, etwa die Poetica Giorgio Vallas (1498). In Italien folgten gelehrte Kommentare, z. B. Lodovico Castelvetros Poetica d'Aristotele vulgarizzata e sposta (1576), die Poetices libri septem (1561) des Julius Caesar Scaliger oder in Deutschland der Kommentar von Daniel Heinsius' De poetica liber (1611). Martin Opitz' Buch von der deutschen Poeterey (1624) und Johann Christoph Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) sind in ihrem normativen Charakter von Aristoteles und Horaz beeinflusst. Bes. die franz. Regelpoetiken des Humanismus, so etwa Vauquelin de la Fresnayes Art poétique (1574) oder Jean de la Tailles De l'art de la tragédie (1572), rezipierten die antiken Poetiken vertiefend, ebenso auch diejenigen des franz. Klassizismus, die sich dabei auch kritisch mit ihrer Ästhetik auseinandersetzten, so Pierre Corneilles poetologische Schriften (Discours de l'utilité et des parties du poème dramatique, Discours de la Tragédie et des moyens de la traîter selon le vraisemblable ou le nécessaire, Discours des trois unités d'action, de jour et de lieu, 1660) oder Nicolas Boileaus L'Art poétique (1674).
Die Regelpoetiken aristotelischer Provenienz sahen einen geschlossenen Aufbau des D. vor: drei oder fünf Akte, die sich in Szenen unterteilten: einen eröffnenden Teil (die Exposition), Anlage und Darstellung der Verwicklung und schließlich die Auflösung bzw. Katastrophe, womit auch der heitere Ausgang der Komödie gemeint sein konnte. Elementar waren weiterhin die Ständeklausel, die für die Tragödie Figuren aus den oberen und für die Komödie Figuren aus den unteren gesellschaftlichen Schichten vorsieht, die Lehre von den drei Einheiten (des Ortes, der Zeit und der Handlung) sowie die Dreipersonenregel oder das Verbot der leeren Bühne. Wirkungsästhetisch bedeutsam war die Lehre von der Katharsis, d. h. die Vorgabe, dass die Tragödie durch das Vorführen von »Jammer und Schaudern« [1. Kap. 6] von eben diesen Affekten reinigen sollte. Innovationen gegenüber diesen reglementierenden Vorschriften erfolgten in England unter dem Einfluss Shakespeares, der in Deutschland erst später rezipiert wurde. So kritisierte Goethe in seiner Rede Zum Shakespeares-Tag (1771) das regelmäßige Theater, das ihm »kerkermäßig ängstlich« erschien, und spielte Shakespeares D. gegen die franz. klassizistischen Vorbilder aus [3. 225].
In noch schärferer Polemik gegen Aristoteles gaben sich Jakob Michael Reinhold Lenz' Anmerkungen übers Theater (1774), die mehr Individualität und Psychologie bei der Ausgestaltung der Figuren forderten und ebenso die regelfreieren Stücke Shakespeares favorisierten. Für unzeitgemäß erklärte Lenz auch den Schicksalsbegriff, welcher der aristotelischen D.-Poetik zugrunde liegt [6. 257]. Schließlich setzte sich Goethe in seiner Nachlese zu Aristoteles' Poetik (1827) kritisch mit der Katharsis-Lehre auseinander. Bereits Lessing befasste sich im Briefwechsel über das Trauerspiel (1756) differenziert mit dieser und setzte sich zugleich von den franz. Vorbildern ab: Er forderte bürgerliches Personal auf der Bühne und erklärte als das höchste Ziel des D., nicht Bewunderung, sondern Mitleid zu erregen [7. 163]. An Lessings Mitleidsästhetik schließt Friedrich Schillers Schrift Über die tragische Kunst (1792) an. Mitte des 19. Jh.s lieferte Gustav Freytag mit Die Technik des Dramas (1862) eine ausführliche, in ihrem Charakter normative Poetik, die jedoch weiter versuchte, die aristotelischen Kategorien im Sinne einer nzl. Anthropologie und Ästhetik umzudenken.
Die variantenreiche Rezeption der aristotelischen Poetik wurde also für Theorie und Praxis des nzl. D. leitend und wegweisend. Das gesamte europ. D.-Schaffen der Nz. ist ohne die teils affirmative und teils kritische Auseinandersetzung damit nicht zu denken.
2. Dramengeschichte
2.1. Das Drama im Kontext der europäischen Festkultur
Die Blütezeiten des europ. Theaters im 16. und 17. Jh. verliefen phasenverschoben und waren jeweils abhängig von der Entwicklung einer vom Hof dominierten (oft auch finanzierten) ausgeprägten theatralen Fest-Kultur. Ihnen ging ein mehr oder weniger regelloses Theaterwesen voran, das eng mit dem religiösen Leben und der Volkskultur verbunden war: Geistliche Spiele, Passionsspiele, Oster- und Fastnachtspiele, an öffentlichen Orten (meist auf Marktplätzen) aufgeführt, brachten dem Zuschauer das biblische Geschehen nahe. Diese Feste, die sich meist über mehrere Tage erstreckten, hatten insofern eine kathartische Funktion, als sie dem Volk einen Raum ungezügelter Freiheit gewährten. Deshalb wurden sie im Verlauf des 16. Jh.s europaweit verboten.
Ein zweites Phänomen bildeten ebenfalls europaweit die Wandertruppen. Ital. Schauspielgruppen der Commedia dell'Arte und engl. Wanderbühnen prägten in der Frühen Nz. auch das Theaterleben an den Höfen. Das Motiv der Truppen war finanzieller Art; sie wollten unterhalten und zu diesem Zweck gaben sie komischen Figuren breiten Raum: dem Pickelhering, dem Harlekin und dem Hanswurst, die auch in den teils ernsten Stoffen eine performative Funktion erhielten (Performanz). Die ursprünglichen D.-Texte wurden dabei bisweilen bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Die Inszenierung gewann ein so starkes Eigenleben, dass Ende des 17. Jh.s von den Fürsten und Gönnern bisweilen die Forderung der Werktreue erhoben wurde. Das Repertoire der Wanderbühnen bestand meist aus Versatzstücken bekannter Stoffe und Motive aus D. Shakespeares, Calderóns, Molières oder Corneilles, später auch Lohensteins und Gryphius' – Stücken, die heute zur Weltliteratur gehören und die den Grundstein und die Folie für das D. der Nz. lieferten.
2.2. England und Spanien
In England bot die Regierungszeit Elisabeths I. den Hintergrund für den Erfolg der Shakespeare-D., die in den ersten öffentlichen Theatern, etwa im Swan (1595) oder im Globe (1599), zur Aufführung kamen und allen gesellschaftlichen Schichten offen standen: Das D. war zur Vermittlung auf seine Inszenierung angewiesen, da Lesen (Lesekultur) und Schreiben (Schriftlichkeit) immer noch ein Privileg der Gelehrtenschicht war (Analphabetismus). Shakespeares Stücke formten bereits den Topos der »Welt als Theater«, des Theatrum mundi, den später der span. Hofdichter Pedro Calderón de la Barca in seinem El gran teatro del mundo (1645) beispielhaft inszenierte. In den vorgeführten Lebenswirklichkeiten ging es um Rollenfindung, um Identitäten in einer Zeit, in der übliche Denkfiguren in Zweifel gezogen wurden und alte Ordnungsmuster durch neue wiss. Erkenntnisse, politische Umwälzungen und Verunsicherungen in Glaubenswahrheiten zerfielen. Die Gattung des Geschichtsdramas gewann u. a. mit Shakespeares York-Tetralogie an Ansehen (ca. 1590–1593) [19. 9–40]. Später folgten Hamlet (1601) oder King Lear (1605). Shakespeare schuf experimentierfreudig ein antiaristotelisches D., indem er z. B. mehrere Handlungsstränge anlegte, auf dreiflächiger Bühne spielen ließ oder Sphären und gesellschaftliche Schichten vermischte, so in der wirkungsmächtigen Komödie A Midsummer Night's Dream (1595).
Im Unterschied zur ital. Commedia -Tradition und zum elisabethanischen Theater erlangte im D. des span. Siglo de Oro (16./17. Jh.; Klassiken, europäische) und im dt. Barock-D. der heilsgeschichtliche Aspekt konstitutive Bedeutung für die Konzeption von Inhalt und Form. In Spanien wurden die Stücke ähnlich wie in England von breiten gesellschaftlichen Kreisen, nicht nur am Hof, sondern in öffentlichen Theatern, den Corrales (Bühne), rezipiert: Außerordentlich produktiv war Lope de Vega, der etwa 1 500 D. verfasste, darunter allein 400 autos sacramentales, kurze belehrende und zugleich unterhaltende Stücke geistlichen Inhalts, die am Fronleichnamstag vor König und Volk aufgeführt wurden.
2.3. Das deutsche Barockdrama
Das dt. Barock-D. ist wie ein großer Teil der dt. Literatur des 17. Jh.s ohne die speziellen kulturgeschichtlichen Hintergründe nicht zu verstehen: Konfessionskriege seit dem Augsburger Religionsfrieden (1555), Gegenreformation, Zersplitterung des Reiches in Fürstentümer, schließlich der Dreißigjährige Krieg prägten die lit. Texte wie auch die sich ausbildende höfische Kultur, die ihr Leben zunehmend am franz. und span. Zeremoniell ausrichtete. Neben den Gymnasien und kirchlichen Institutionen waren es die Fürstenhöfe, an denen die Barock-D. zur Aufführung gelangten. In keinem Fall nahm das Volk solch regen Anteil am Theaterleben wie in England oder Spanien. Dies lag auch daran, dass es sich beim dt. Barock-D. um Literatur von Gelehrten für Gelehrte handelte [13. 220 f.], die deutlich in der Tradition humanistischer Gelehrsamkeit stand. Die Autoren versuchten, die antike D.-Poetologie lit. umzusetzen, wie es auch die zahlreichen barocken, an den antiken Vorbildern geschulten Poetiken vorgaben, etwa Opitz' Buch von der deutschen Poeterey (1624) [9. 27 f.].
Die wichtigsten Gattungen waren das kath. Jesuitendrama und das protest. Schuldrama bzw. Märtyrerdrama. Das Jesuitendrama (Ordens-D.) verstand sich im Dienst der Gegenreformation. Jakob Bidermann (Cenodoxus, 1602, Philemon Martyr, 1618) und Jakob Balde (Jephtias Tragoedia, 1654) waren seine wichtigsten Vertreter.
Exempel des Widerstandes aus protest.-lutherischer Perspektive war das schlesische Kunst-D., allen voran die Tragödien des Andreas Gryphius (Leo Armenius, 1650; Carolus Stuardus, 1657; Catharina von Georgien, 1657). Wie auch sein Landsmann Daniel Caspar von Lohenstein gewann der poeta doctus (»gelehrte Dichter«) Gryphius seine Diskussionen um Glauben, politische Verantwortung und Widerstand aus Historiographien, die geeignete Beispiele boten, um ideale Beständigkeit, die (neu)stoisch-christl. constantia der Märtyrer, darzustellen. Lohenstein wählte gerne Stoffe aus der röm. Antike, um noch differenzierter als Gryphius das Lavieren zwischen politischer Staatsklugheit, individueller Selbstbehauptung und Humanität zu erörtern. Seine Cleopatra (1661/1680), Agrippina (1665) und Sophonisbe (1680) weisen den Autor als gelehrten Kenner und eigenwilligen Interpreten der röm. Historiographie aus (insbes. Tacitus). Neben dem Versmaß des Alexandriners stellten die sog. »Reyen« ein weiteres spezielles Formelement dar; sie waren in Anlehnung an die Chöre der antiken D. den Akten zwischengeschaltet und kommentierten das Geschehen oft moralistisch. In der Tradition dieser Trauerspiele stehen August Adolf von Haugwitz (Maria Stuarda, 1683) oder Johann Christian Hallmann (Mariamne, 1670).
Neben dem Trauerspiel entwickelte sich eine eigene Komödien-Tradition, die in den Humanismus zurückreicht (Jakob Frischlin, Hans Sachs, Jacob Ayrer). Die komischen Vorbilder lieferten weiterhin die lat. Komödien des Plautus und Terenz. Die Komik in der barocken Komödie resultierte häufig daraus, dass Kommunikation misslang, wie etwa in Andreas Gryphius' Absurda Comica oder Herr Peter Squentz (1658) und im Horribilicribrifax (1663). Außerordentlich produktiv im Bereich der Lustspiele war außerdem Christian Weise, der mit seinen deutlich dem Diesseits verpflichteten Stücken das Ende des Barockzeitalters markierte.
2.4. Das 18. Jahrhundert
In Frankreich etablierte sich mit der Regierungszeit Ludwigs XIV. (1643–1715) am Hof und in öffentlichen Pariser Theatern eine ausgeprägte Festkultur: Molière feierte mit seinen Komödien große Erfolge; Jean Racine versuchte im Bereich der Tragödie Pierre Corneille den Rang streitig zu machen. Für das dt. D. der Frühaufklärung galten die franz. klassizistischen Stücke als Vorbilder, nicht das dt. barocke D., das u. a. wegen seines rhetorischen »Schwulstes« kritisiert wurde.
Johann Christoph Gottsched entwarf im Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730) eine strenge Regelpoetik nach antikem Muster. In der Deutschen Schaubühne (1740–1745) versammelte er Stücke, die nach Form und Inhalt Vorbildcharakter besaßen, u. a. Übersetzungen franz. Dramatik. Sein Sterbender Cato (1731) sollte ein Muster seines poetologischen Programms sein, dessen erstes Ziel die moralisch vernünftige Unterweisung des Publikums durch Nachahmung der vernünftigen Natur bildete. Entsprechend sollte das Phantastische und Wunderbare von der Bühne vertrieben werden, etwa die im Barockzeitalter und auf den Wanderbühnen so beliebte Harlekin-Figur. Auch die Komödie, in der sich Gottscheds Frau, Luise Adelgunde Victorie Gottsched, und Christian Fürchtegott Gellert einen Namen machten, stand im Dienst eines aufklärerischen Moralismus. Gottsched gab den Anstoß für eine »Literarisierung des Theaters« [17. 87], insofern der schriftliche D.-Text unbesehen seiner Aufführung als Grundlage vernünftiger, aufklärerischer Belehrung verfasst sein sollte. Derweil feierte in Frankreich Pierre Carlet de Marivaux mit seinen psychologischen und sozialkritischen Prosakomödien Erfolge (Arlequin poli par l'amour, 1720; La nouvelle colonie, 1729) [15].
In Deutschland hatte schließlich der neue Adressatenkreis des Bürgertums Einfluss auf die Theorie und Praxis des D. Lessing setzte seine Poetik des Mitleids (s. o. 1.3.) in der Gattung des bürgerlichen Trauerspiels um, das er mit Miß Sara Sampson (1755) in Deutschland begründete und mit Emilia Galotti (1772) fortführte. Variationen fand Lessings Emilia Galotti z. B. in Friedrich Schillers Kabale und Liebe (1784) und noch in der Mitte des 19. Jh.s in Christian Friedrich Hebbels Maria Magdalene (1844). Vorbilder lieferte die engl. Literatur, etwa George Lillos The London Merchant (1731), das in Hamburg 1754 zum ersten Mal in dt. Sprache aufgeführt wurde. In der Nachfolge von Denis Diderot fand es auch in Frankreich zahlreiche Adaptationen.
Der bürgerlichen Familie mit ihren überkommenen Moral- und Tugend-Vorstellungen sollte auf der Bühne ihr Spiegelbild vorgeführt werden. Um dies zu erreichen, führte Lessing den sog. »gemischten Charakter« in das D. ein, dessen Notwendigkeit er theoretisch in seiner Hamburgischen Dramaturgie (1767–1769) erläuterte [8. 581 f.] und sich so von einer strengen rationalistischen Regelpoetik im Gottsched'schen Sinne entfernte. Allerdings setzte er dieses Konzept nicht immer um. So kehrte sein D. um Toleranz und Humanität, Nathan der Weise (1779), wieder zu einer exempelhaften Figurendarstellung zurück. Vordergründig leistete Lessing dramatische Innovationen mit seiner Mitleidsästhetik, der Einführung des »gemischten Charakters« und der Abschaffung der Ständeklausel. Auffällig ist auch seine Vorliebe für die unregelmäßige Dramatik Shakespeares, deren produktive Rezeption er zwar selbst kaum vorantrieb; Shakespeare aber konnte gut gegen den rationalistischen Dogmatismus eines Gottsched ins Feld geführt werden [14. 190 f.]. Für Lessing blieb jedoch, wie generell für die D.-Theorie der Aufklärung, Aristoteles' Poetik der zentrale Referenztext [12. 35]. Neben dem bürgerlichen Trauerspiel verhalf Lessing der Komödie mit seinen Lustspielen zu neuem Ansehen (z. B. Der junge Gelehrte, 1754; Die Juden, 1754; Minna von Barnhelm, 1767). Diese konzipierte er in kritischer Auseinandersetzung v. a. mit der sächs. Typenkomödie, der franz. comédie larmoyante, der Commedia dell'Arte und den Komödien Gellerts.
Parallel zu Lessing verfasste Carlo Goldoni in Italien mit seinen Komödien eine bemerkenswerte Theaterreform, die andere Wege ging: Das D. sollte nicht allein Welt abbilden, wie etwa das bürgerliche Illusionstheater in Deutschland, sondern Welt und Theater wurden in einen neuen Bezug zueinander gesetzt; beide wurden als »Bücher« aufgefasst, aus denen sich der D.-Autor bedienen konnte. Der Zuschauer sollte Distanz gewinnen, indem z. B. Figuren aus der eigenen bürgerlichen Welt als Rollenspielende erkannt wurden, sodass ein anderer Reflexionsrahmen entstand. Nicht Identifikation war das Ziel, wie etwa in Lessings Mitleidsästhetik, sondern Lernen der Lebenswirklichkeiten durch kritisches Distanzverhalten. Durch facettenreiche Figurenzeichnungen »kommentieren« einander Theater und Welt »gegenseitig« [16. 267].
In Frankreich war Pierre Augustine Beaumarchais der erfolgreichste Dramatiker seiner Zeit. Seine Figaro-Trilogie trägt vorrevolutionäre Züge. Jean-François Ducis machte durch Übersetzung Shakespeare in Frankreich bekannt (Hamlet, 1769; Macbeth, 1778; Othello, 1792). Louis Carrogis verweist mit seinen Proverbes dramatiques (1768–1781; auf eine Pointe zugespitzte dramatische Umsetzungen von Sprichwörtern) bereits auf die Tradition des Einakters der über Alfred de Musset im 19. Jh. in Deutschland populär wurde.
In Deutschland fanden tiefgreifende Entwicklungen erst gegen Ende des 18. Jh.s statt. Die Begeisterung für das Shakespeare'sche D. drückte sich nun in der Auflösung der starren regelpoetischen Vorgaben bezüglich Stil und Tektonik aus: allen voran in Goethes Schauspiel Götz von Berlichingen (1773), das als offenes D. konzipiert war, mehrere Handlungsstränge gleichzeitig anlegte und Szenen locker miteinander verband. Zu den wichtigsten D. dieser Sturm und Drang-Periode gehören Jakob Michael Reinhold Lenz' ebenfalls bewusst antiaristotelisch aufgebaute Komödien Der Hofmeister (1774) und Die Soldaten (1776), welche die Gattungsgrenzen sprengten und Komisches mit Tragischem mischten, sowie Schillers Schauspiel Die Räuber (1781).
2.5. Weimarer Klassik
Das D. des Barock war weitestgehend der höfischen Repräsentationskultur verpflichtet und stand in religiösen Diskussionszusammenhängen; dasjenige der Aufklärung suchte das Bürgertum als neuen Adressatenkreis, seine Verankerung und Legitimation in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Das D. der Weimarer Klassik (Klassiken, europäische), das mit der Rückkehr Goethes aus Italien 1788 und seiner Neukonzeption der Iphigenie auf Tauris (1787) seinen Anfang nahm, zeichnete sich durch seinen absoluten Kunstcharakter aus. Gegenläufig zu ihren dramatischen Anfängen entwickelten Goethe und Schiller eine Autonomieästhetik, die (wie die Poetik Gottscheds und Lessings) weiterhin die moralische Besserung der Rezipienten anstrebte, dies jedoch nicht durch Nachahmung von Natur und Gesellschaft, durch Einfühlung und Identifikation zu erreichen suchte, sondern durch ästhetische Distanzierung, die wiederum Reflexion auf die eigenen moralischen Begrifflichkeiten auslösen sollte: »Richtigere Begriffe«, so Schiller in seiner Rede Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken (1784) [11. 828], formten sich durch die Schauspiele.
Die Bühne am Weimarer Hof bildete das Experimentierfeld, auf dem nicht nur eigene Produktionen, sondern viele Stücke der gesamten abendländischen D.-Tradition experimentell zur Aufführung kamen. Das zeittypische und von Johann Joachim Winckelmann initiierte Interesse an der griech. Antike äußerte sich zwar auch durch übernommene Stoffe, wie etwa in der Iphigenie auf Tauris (1787), jedoch bes. in der Reflexion eines Idealismus der Form sowohl als ästhetischer als auch anthropologischer Kategorie und der Möglichkeiten humanitären Handelns. Fluchtpunkt bildete ein idealistisches Menschenbild, so etwa in Goethes Egmont (1789), Torquato Tasso (1807) und auch in den Fausttragödien (1808/32), ebenso in Schillers Don Karlos Infant von Spanien (1785) oder Maria Stuart (1808).
2.6. Entwicklungen im 19. Jahrhundert
Das 19. Jh. zeichnete sich durch eine äußerst facettenreiche D.-Produktion aus, die teils noch in klassischer Tradition stand, teils bereits auf das D. der Klassischen Moderne vorauswies. An einer Gelenkstelle zwischen Klassizismus und Romantik ist Heinrich von Kleists Dramatik anzusetzen. Während der Aufbau seiner Stücke noch regelmäßigen Charakter trägt, insofern sie Exposition, Verwicklung und Katastrophe erkennen lassen, so beinhalten sie andererseits wunderbare oder phantastische bzw. irrationale Elemente, wie sie (auch unter dem Einfluss Shakespeares) für das romantische D. Ludwig Tiecks oder Clemens Brentanos typisch sind. Außerdem mischte Kleist komische Nuancen in extrem tragische Gegenstände, so etwa in Die Familie Schroffenstein (1803). Die zentrale Thematik des Stückes, das Problem der sprachlichen Verständigung und der aus ihr resultierenden Missverständnisse, griff strukturell ein komödiantisches Motiv auf und verwies damit auf die brüchig gewordene Sprach- bzw. Zeichenwelt der aufkommenden Moderne. Es nahm insofern bereits das Thema von Hofmannsthals Chandos-Brief (1902) vorweg; ebenso auch der auf dem Wiener Burgtheater erfolgreiche Franz Grillparzer mit seiner Komödie Weh dem, der lügt! (1838). In England waren in der ersten Hälfte des 19. Jh.s Byron und Shelley berühmte Vertreter des romantischen Dramas.
Schon bevor Friedrich Hebbel (Maria Magdalene, 1844, Agnes Bernauer, 1852) an die Tradition des bürgerlichen Trauerspiels anknüpfte, hatten inhaltlich und formal Georg Büchners Woyzeck (um 1836 entstanden, 1878 erschienen) wie auch einige D. Grabbes neue Akzente gesetzt. Der Woyzeck trägt szenisch-fragmentarischen Charakter und besitzt einen offenen Schluss. Büchner gestaltete zum ersten Mal eine Figur aus den untersten Ständen als Protagonisten eines Trauerspiels. Die sozialkritischen Anklänge des Stückes sind auch aus dem Kontext der Revolutionsjahre heraus zu verstehen und weisen auf das naturalistische D. voraus, das mit heterogenen, symbolistischen und ästhetizistischen Tendenzen in der Literatur den Beginn der Klassischen Moderne markiert.
Verwandte Artikel: Literaturtheorie | Komödie | Poetik | Rhetorik | Tragödie
Bibliography
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